Der Strom der Gezeiten
Ganz im Norden Schottlands soll das bisher größte Gezeitenströmungs-Kraftwerk der Welt entstehen. Der Projektentwickler Meygen plant, bis 2020 am Grund der Meerenge Pentland Firth zwischen der schottischen Küste und den Orkney-Inseln 269 Unterwasserturbinen zu errichten. Mit 389 Megawatt installierter Leistung könnten so 175.000 Haushalte versorgt werden.
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Bis 2016 sollen die ersten vier Turbinen im Pentland Firth Strom aus den Gezeitenströmungen liefern. (Foto: Atlantis Resources)
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Noch 2014 wird mit dem Bau von vier Unterwasserturbinen mit je 1,5 Megawatt Leistung begonnen, ab 2016 soll Strom produziert werden. Dabei werden – ähnlich wie man es von Windkraftanlagen her kennt – Rotoren von den Wasserströmungen angetrieben, die durch Ebbe und Flut entstehen. In der Größe unterscheiden sich die Anlagen jedoch deutlich: Die Energiedichte von Wasserströmen ist sehr viel höher als für Luft, weshalb die Rotoren kleiner ausfallen können. Die Turbinen für das Meygen-Projekt sind etwa 26 Meter hoch und haben einen Rotordurchmesser von 16 bis 20 Metern.
Der Ort ist für das Meygen-Projekt ist gut gewählt – der Pentland Firth weist mit Geschwindigkeiten von fünf Metern pro Sekunde und mehr eine der weltweit stärksten Gezeitenströmungen auf. Ingenieure der Universitäten von Oxford und Edinburgh veröffentlichten 2013 eine Studie, der zufolge alleine in diesem Meeresgebiet 1,9 Gigawatt Leistung genutzt werden könnte. Das entspricht gut 16.000 Gigawattstunden im Jahr und damit gut der Hälfte des schottischen Strombedarfs, der laut Regierungsstatistiken für 2012 knapp 31.000 Gigawattstunden betrug.
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Eine Turbine wird installiert (Foto: Atlantis Resources) |
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Gezeitenströmungen oder Meeresströmungen im Allgemeinen sind nur eine Möglichkeit, die Bewegungsenergie der Ozeane zu nutzen. Erprobt werden auch Wellenkraftwerke und Anlagen, die den Tidenhub der Gezeiten ausnutzen (siehe auch Energie-Perspektiven 3/2009). Für das weltweite Potential dieser Energien gibt es derzeit nur wenige verlässliche Schätzungen, weil die Nutzungstechnologien noch nicht ausgereift sind. Die Internationale Energie-Organisation IEA gibt als Untergrenzen für die nutzbare Energie aus Meeresströmungen 800.000 Gigawattstunden pro Jahr an. Aus Gezeitenhub ließen sich 300.000 und für Wellenenergie 8.000.000 bis 80.000.000 Gigawattstunden pro Jahr gewinnen.
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Großbritannien verfügt über die größten Potentiale für Gezeitenenergie in Europa. (Grafik: Aqua-RET)
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In Europa sind die stärksten Gezeitenströme um Großbritannien und Irland sowie bei den Kanalinseln vor Frankreich zu finden. Dazu kommen vereinzelte Gebiete vor Norwegen, Spanien und im Mittelmeer, beispielsweise zwischen Italien und Sizilien oder den Inseln der griechischen Ägäis.
Aufgrund des hohen Potentials treibt Großbritannien die Nutzung der Meeresenergie am stärksten voran. Unter anderem liefert eine Anlage der Siemens-Tochter Marine Current Turbines im nordirischen Stranford Lough seit 2008 Strom. Im Ramsey Sound vor der walisischen Küste installiert die Tidal Energy Ltd. eine 400 Kilowatt-Turbine zu Demonstrationszwecken, die ebenfalls an das Netz angeschlossen sein wird. Der UK Crown Estate, dem die Nutzungsrechte für die Seeböden rund um das Königreich obliegen, hat zudem mehrere Gelände ausgewiesen, an denen Hersteller ihre Konzepte weiterentwickeln können, beispielsweise das European Marine Energy Centre bei den Orkney Inseln und Wave Hub vor der Südwestküste Englands.
Christine Rüth